Eine Sagenanalyse


So wie es einen Zeitgeist gibt, so gibt es auch den Geist eines Ortes - den Genius Loci.
Die Gründungssage von Potsdam gibt einige Hinweise auf die Grundcharakteristik, die diesen Ort und sein besonderes Flair im Laufe der Siedlungsgeschichte ausgemacht hat und bis heute bestimmt.

In Sagen drückt sich die Seele eines Landes oft in Gestalt einer Frau aus. Naturdarstellungen im Allgemeinen bedienen sich häufig einer weiblichen Figur. So auch hier:
Die Seele der vom Wasserelement geprägten Landschaft, der Moore und Brüche, nimmt die Form einer Fischerin an. Wie es für ein Nymphenwesen typisch ist, so ist auch sie scheu, aber wunderschön, und sie verzaubert den Reisenden mit ihrem Gesang. (Davon weiß schon Odysseus aus seiner Erfahrung mit den Sirenen ein Lied zu singen.) Lieblich und musisch ist also auch die Ortsqualität zu beschreiben.
Das Netz, das sie ausgeworfen hat, steht als Symbol für ihre ernährende, Leben spendende Kraft, also für die Fruchtbarkeit der Landschaft. (Sogar bei den Hopi gilt die Spinnenfrau in ihrem Netz als Lebensschöpferin.)
Gleichzeitig ist sie auch Menschenfischerin: Sie zieht den Reisenden in ihren Bann. Sie, die Verkörperung der Natur, lässt sich vom Menschen entdecken, prüft ihn aber dann genau, bevor sie sich auf ihn einlässt. Es scheint, als suche die Natur den Menschen, um in Gesellschaft mit ihm zu leben! Diese Vorstellung bestätigt sich durch den Sturm, in dem sich der göttliche Wille zeigt: Er führt den Menschen direkt zum Sitz der Landschaftsnymphe hin.

In einer Zeit, die noch durch die Vorstellung einer wesenhaften Natur bestimmt ist, kann ein Land nicht einfach erobert und in Besitz genommen werden, sondern vielmehr muss mit dem herrschenden Geist des Ortes in Kommunikation getreten werden, will man die Naturkräfte nicht gegen sich, sondern auf seiner Seite wissen.
Für den sorglosen Helden der Sage stellt diese Begegnung offenbar ein sehr intimes, gar übersinnliches Erlebnis dar; denn er wagt nicht einmal, darüber zu sprechen. Er versteht jedoch nicht, dass er die Seele des Ortes nicht einfach in seine Welt mitnehmen kann. So bedarf es einiger Schicksalsschläge, um seine Vorstellungen zu zerschlagen. Die neun Tage stehen hier stellvertretend für eine Phase der Wandlung, eine Initiation bzw. die Vollendung eines inneren Prozesses, durch den er hindurchgehen muss, bevor er seine wahre Aufgabe erfüllen kann.

Das Land und daher auch das Mädchen sind in Winterstarre gefallen, als der Held an den heiligen Ort der Begegnung zurückkehrt. Und wie Jakob nach seiner Vision der Himmelsleiter einen Altar errichtete, worauf später eine Kirche erbaut wurde, so baut auch Chocus zunächst eine Hütte an diese magische Stelle und ersetzt sie dann durch eine Burg - die Urzelle Potsdams.

Seine Erblindung, sein Ergrauen und das Lachen, das er einbüßt, können als Opfer des Menschen für die durch den Bau zerstörte Natur verstanden werden. Denn gemäß des damaligen Naturverständnisses muss durch Opferrituale ein Ausgleich für die Verletzung der Erde, die durch die Besiedelung geschieht, geschaffen werden. Gleichzeitig sind aber Blindheit und ein weißes Haupt Attribute eines alten Weisen und Sehers, der mit dem inneren Auge die Wahrheit erkennt. Die Anhängerschaft und Befürwortung, die ihm am Ende zuteil werden, zeugen jedenfalls für seine gelebte Herzensweisheit.


Dies ist meine persönliche Analyse. Für andere Auslegungen bin ich offen und freue mich über entsprechende Zuschriften.
Claas Fischer